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Interview mit Filmkomponist Laurent Perez del Mar

Laurent, ich freue mich unheimlich auf die Weltpremiere deines Filmkonzertes DIE ROTE SCHILDKRÖTE. Der Film kam bereits 2016 in die Kinos, erhielt viel Lob von der Kritik und war ein Kassenerfolg. Du hast den Preis für „Best Original Score for an Animated Film“ der International Film Music Critics Association gewonnen und warst für die Lumière Awards in Frankreich nominiert. Warum hat es sieben Jahre gedauert, deine gefeierte Filmmusik in den Konzertsaal zu bringen?

Ich hatte ein paar Angebote, letztendlich fand ich zwischen der Covid-Phase und der Arbeit an Filmen nach DIE ROTE SCHILDKRÖTE aber nie die Zeit, mich um ein mögliches Filmkonzert zu kümmern.

Ich erinnere mich lebhaft an die Deutschlandpremiere des Filmkonzertes eines modernen Stummfilms, THE ARTIST, mit dem Staatsorchester Braunschweig und Komponist Ludovic Bource am Flügel. Auch wenn DIE ROTE SCHILDKRÖTE keine gesprochenen Dialoge hat, so handelt es sich doch nicht um einen Stummfilm. Ich vermute, da ist die Live-Aufführung eine wesentlich kompliziertere Aufgabe? Kannst du die Fallstricke in der Vorbereitung beschreiben? Musstest du deine Musik für diese besondere Veranstaltung neu bearbeiten?

Zwei Dinge benötigen in der Vorbereitung viel Zeit, die Musik perfekt synchron zum Filmbild zu spielen, natürlich, vor allem aber, all jene Parts, die ich selbst in meinem Studio gespielt hatte, für das Orchester zu adaptieren und zu transkribieren. Tatsächlich hatte ich für einen Großteil der Percussions Bambusinstrumente eingesetzt. All die ursprünglichen Flöteninstrumente, die Celesten, Harfen, Klaviere, Charangos (südamerikanisches Zupfinstrument mit zehn Saiten, Anm. d. Red.) hatte ich selbst eingespielt … daher ist es notwendig, die Scorepassagen all dieser Instrumente zu überarbeiten, um die Musik für ein konventionelles Orchester „spielbar“ zu machen. Hierbei kann ich auf meine Mitarbeiter zählen. Sie unterstützen mich bei dieser Aufgabe.

Dein Score ist intensiv, mit einem wirklich eindringlichen Cello als Soloinstrument. Doch es gibt auch sehr zarte Passagen, die eine geradezu heilende Qualität haben. Konntest du hierfür auf Erfahrungen aus deinem Medizinstudium zurückgreifen?

Ich denke nicht, oder vielleicht ist es mein Einfühlungsvermögen, das ich für Patienten einsetzte, und das ich für die Zuhörer meiner Musik einsetze. Aber das ist die einzige Gemeinsamkeit, die ich darin sehe.

Ein wesentliches Element dieser heilenden Qualität ist die himmlische Stimme der Sopranistin Julia Wischniewski. Zu welchem Zeitpunkt der Produktion wurde sie eingebunden?

Sehr früh. Nachdem ich Michael Dudok de Wit (Regisseur von DIE ROTE SCHILDKRÖTE, Anm. d. Red.) zum Mittagessen getroffen hatte, schrieb ich das Thema des Films noch am selben Tag, nahm es mit Julia am selben Abend auf und schickte es Michael. Ich wusste, dass sie die perfekte Sängerin für dieses Thema war, und dass ihre Stimme ein perfektes Duo mit Sarahs Cello bilden würde. Somit war sie von Tag 1 an der Kreation und Aufnahme dieser Originalmusik beteiligt.

Wenn ein Komponist für seinen Filmscore mit einer Sopranistin arbeitet, bezeichnen Filmkritiker:innen ihn stets als „inspiriert von Ennio Morricone“. Ist der Umgang der Kritik mit Dir und Komponierenden Deiner Generation fair?

Das äußerst umfassende Vermächtnis von Ennio Morricone betrachte ich ganz klar als einen Teil meiner Einflüsse. Alle Künstler, egal in welchem Bereich, studieren, schätzen und verarbeiten die Arbeiten ihrer Vorbilder. Für mich sind es die von Ennio, den ich mehrfach traf, an dessen Tisch zu Abend zu essen ich das Privileg hatte und der mir Ratschläge gab, über die ich jeden Tag während meiner Arbeit nachdenke. Ich liebe seine Musik, und wenn mir manchmal gesagt wird, dass ich von seinem Genie beeinflusst bin, nun, dann fasse ich das als Kompliment auf.

Ich empfehle die CD bzw. den digitalen Download von DIE ROTE SCHILDKRÖTE. Interessanterweise hast Du für die Stücke eine andere Reihenfolge gewählt als im Film. Warum?

Wie alle Musiker möchte ich, dass Menschen meine Musik anhören. Im Film beginnt die Musik schrittweise, zunächst mit wenigen Klängen, dann Streichereffekten … Und ich befürchtete, Zuhörer würden das Interesse am Album verlieren und weiterzappen bevor die stärker thematisch orientierte, mit Emotionen aufgeladene Musik anfängt.

Du hast für fast vierzig Filme die Musik geschrieben. Darunter mehrere Animationsfilme, aber überwiegend Spielfilme. Wo liegen die Unterschiede in der musikalischen Herangehensweise an einen Charakter, der von einem Schauspieler verkörpert wird, und an einen animierten Charakter?

Der Unterschied betrifft meiner Meinung nach nicht die Charaktere, sondern das Genre, weil die Animation keinerlei Grenzen hinsichtlich des „Realen“ setzt. Daher können wir manchmal orchestrale Musik mit stärkerem Atem schreiben, wir können die Emphase-Regler viel weiter nach oben schieben als in Spielfilmen, in denen wir häufig von der Realität eingeschränkt werden (Ich spreche hier natürlich nicht von Science-Fiction und anderen phantastischen Filmen).

Als Einstieg in dein Oeuvre empfiehl bitte fünf Filme jenseits von DIE ROTE SCHILDKRÖTE.

Das ist schwer, weil ich in alle Projekte so viel von mir hineingebe, dass ich mich mit jedem einzelnen verbunden fühle. Ich würde sagen ZARAFA, WOLFIE THE INCREDIBLE SECRET, TENOR, MY SON, ANTIGANG LA RELÈVE.

Das Braunschweig International Film Festival hat eine besondere Beziehung zum französischen Kino. Ich erinnere mich unter anderem an Besuche der Komponisten Antoine Duhamel und Jean-Michel Bernard. Wo verortest Du Dich selbst als Komponist in der großen französischen Filmmusiktradition? Und was ist Dein persönlicher Beitrag zu dieser Tradition?

Das zu definieren finde ich schwierig, weil meine Einflüsse sehr unterschiedlich sind. Es stimmt, dass ich Georges Delerues Art für Streicher zu schreiben, sehr mag, und Francis Lais Sinn für Melodie (der auf demselben Berg wie ich in Nizza wohnte), dessen thematischem Zugang ich mich sehr nahe fühle. Doch vor allem versuche ich, einen besonderen Klang für jeden einzelnen Film zu finden, spezielle Instrumente zu nutzen, losgelöst von ihrem ursprünglichen Zweck und ihrem geografischen Ort, um Konzept und Komposition zu verbinden.

Danke, Laurent, dass du dir die Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten. Viel Spaß auf dem BIFF!

Interview geführt und übersetzt von Clemens Williges