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GenerationGOLD: Türkân Deniz-Roggenbuck im Interview

„Diversität heißt nicht nur Unterschiede zeigen, sondern auch Gemeinsamkeiten entdecken.“ – Türkân Deniz-Roggenbuck über das Projekt GenerationGOLD.

© Mel Rangel, Diversity Salon BIFF/ November 2024

Die Geschichte der sogenannten “Gastarbeiter:innen” ist ein zentraler Teil deutscher Nachkriegsgeschichte – und dennoch wurde sie über Jahrzehnte hinweg nur am Rand des gesellschaftlichen Narrativs behandelt. Mit dem Projekt GenerationGOLD hat Türkân Deniz-Roggenbuck, Gründerin der Braunschweiger Agentur Kulturton, einen Raum geschaffen, der diese Biografien sichtbar macht.

 

Türkân, was hat dich persönlich dazu bewegt, das Projekt GenerationGOLD ins Leben zu rufen?

 

Das Projekt ist mir 2021 buchstäblich beim Joggen vor die Füße gefallen, als ich mich über die defizitäre Berichterstattung über Gastarbeitende zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens echauffiert habe. Und auch durch meine eigenen Biografie – denn mein Großvater ist auch als Gastarbeiter eingewandert und damals in München an Gleis 11 angekommen.

 

Dieses Herzensprojekt ist eine Art verspäteter Dank an eine Generation, die so viel für unser Land geleistet hat, ohne dafür je die Bühne oder Plattform zu bekommen, die sie verdient. Und diese Sichtbarkeit sollen sie nun bekommen als Zeitzeug:innen, deren Geschichten zu lange am Rand standen, obwohl sie mitten in unser aller Landesgeschichte gehören.

 

Schon der Titel „GenerationGOLD – Gestern – Heute – Morgen | dün – bugün – yarın“ zeigt, dass es nicht nur um ein Kapitel der Vergangenheit geht. Was möchtest du mit dieser Perspektive sichtbar machen?

 

Wir möchten Brücken schlagen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und auch den Begriff der Postmigration aufarbeiten und übersetzen. Denn wir befinden uns als Gesamtgesellschaft in einem postmigrantischen Prozess – nicht nur die Menschen mit Migrationserbe.

 

Wenn wir also von GESTERN sprechen, meinen wir die Geschichten derer, die die aktive Gastarbeitermigration erlebt haben. Das HEUTE steht für die Auseinandersetzung der nachfolgenden Generationen und dafür, wie prägend das unsere Gesellschaft geformt hat. Das MORGEN richtet den Blick darauf, wie wir plural und solidarisch zusammenleben wollen.

 

Viele Geschichten der ersten Arbeitsmigrant:innen wurden lange kaum dokumentiert. Nach welchen Kriterien habt ihr entschieden, welche Stimmen und Perspektiven sichtbar werden?

 

Wir wollten Diversität in der Diversität, unterschiedliche Herkunftsländer, verschiedene Lebensrealitäten, aber alle verbunden durch das Kapitel der grenzüberschreitenden Migration, die verbunden mit Hoffnung, Kraft und Zuversicht in ein ihnen fremdes Land kamen. Wir bringen Zeitzeug:innen auf die Bühne, die sonst kaum gehört werden, die nicht in Gremien vertreten sind, die gar nicht gefragt werden, weil ihre Wahrheiten und Erlebnisse vielleicht unbequem sind. Immer unter der Prämisse, wer ist bereit zu erzählen und intime, vulnerable Themen und persönliche Erinnerungen zu teilen. Das ist auch der rote Faden für den Diversity Salon im Rahmen des Filmfests.

 

Gibt es Begegnungen, die dich besonders bewegt oder überrascht haben?

 

Es gibt sehr viele – aber die, die mich am meisten berühren, sind mir fremde Menschen, egal aus welchem Herkunftsland, die nach Veranstaltungen oder Moderationen ihren Stolz oder Dank äußern, dass ich diese Themen in die Öffentlichkeit bringe und ihnen eine Stimme gebe. Denn der Grund, weshalb sie ihre Heimat verließen, war, dass es der nachfolgenden Generation besser geht. Dankbarkeit ist ein großes Stichwort. Diese Menschen sind einfach glücklich, wenn ihre Lebenswirklichkeiten erzählt werden. Auch als Dozierende erlebe ich, wie Studierende oft zum ersten Mal erfahren, dass ihr Migrationserbe wertschätzend gesehen wird – oder dass sie überhaupt eine Migrationsgeschichte haben. Aber wir sollten diese Menschen vor allem selbst erzählen lassen, zuhören und ihre Geschichten im kollektiven Gedächtnis verankern.

 

Du bist mit deiner Agentur Kulturton nicht nur in Braunschweig, sondern bundesweit aktiv. Welche Projekte und Formate beschäftigen dich aktuell noch?

 

Ich bin vielseitig aufgestellt und branchenübergreifen tätig: Ich begleite Veränderungsprozesse in Organisationen, bin Coachin für Empowerment und begleite Institutionen, transkultureller zu denken und zu handeln.

 

Neben GenerationGOLD und dem Diversity Salon gibt es viele weitere Formate, die einen offenen Begegnungsraum schaffen und die ich selbst initiiert oder mitkonzipiert habe: LiteraturBAR, TalkTachles, Luft & Liebe, Klipp&Klar Kindersalon, Hausbesetzung, Kombinat der Vulven, das Beste Abendmahl.

 

Das Leitmotiv ist der gleichberechtigte Einbezug von Communities, Institutionen und Organisationen mit dem Ziel, einen hierarchiefreien und diskriminierungsarmen Raum zu schaffen. Und ich begleite die Menschen in dem Bewusstsein, dass jede:r Expert:in der eigenen Erfahrungen ist. Ich bringe mein Wissen ein, doch auch diejenigen, die zu mir kommen, sind auf ihre Weise Expert:innen.

 

Seit 2022 ist dein Diversity Salon fester Bestandteil des Festival-Programms. Wie ist diese Kooperation entstanden und was ist dir in der Zusammenarbeit besonders wichtig?

 

Es war Liebe auf den ersten Blick mit der Festivalleitung Karina! Wir haben uns das erste Mal bei der TILDA gesehen, ich war Gründungsmitglied des TILDA Filmpreises. Wir haben uns dann getroffen, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen – jetzt ist der Diversity Salon, der zweimal im Jahr stattfindet, einmal jährlich Teil des Festivals mit Fokus auf Medien.

 

Wir greifen bewusst „mutige“ Themen auf, die noch nicht im Mainstream angekommen sind oder kontroverse Perspektiven eröffnen. Es geht zum einen um Agendasetting, zum anderen um Zusammenarbeit auf Augenhöhe sowie um Cross-Networking der Zielgruppen.

 

Warum ist gerade der Film ein so starkes Medium, wenn es um Sichtbarkeit, Repräsentation und gesellschaftlichen Diskurs geht?

 

Filme bzw. Medien allgemein sind die Kommunikationsinstrumente, die am einfachsten zugänglich für die Gesellschaft sind. Filme können tief berühren, noch bevor es in die Erklärung geht. Mit Licht, Ton und verloren gehen, sichtbar und greifbar. Geschichten auf der Leinwand geben Menschen Gesichter, Stimmen und Emotionen. Am Beispiel der Migration wird daraus kein abstrakter Diskurs über „Andere“, sondern die Erfahrung, dass alle dieselben menschlichen Grundbedürfnisse teilen und an einem harmonischen Miteinander interessiert sind.

 

Welche Wirkung oder Resonanz erfährst du mit deinen Projekten – lokal in Braunschweig, aber auch darüber hinaus?

 

Lokale Communities fühlen sich gesehen und ernst genommen, auch bundesweit werde ich gerne als Fach-Moderatorin für Querschnittsthemen rund um Diversität angefragt - langweilig wird mir nicht! So viel positive Resonanz ich aus allen Richtungen erfahre, gibt es ebenso die Kehrseite, die nicht konstruktiv kritisch ist, sondern vielmehr von Angst vor dem Verlust von Gewohnheitsrechten (also Status, Privileg und Macht) begleitet wird. Aber das bringt uns zurück zum Thema „Mut“: Man muss bereit sein, die Perspektive zu erweitern – auch bei negativer Resonanz. Gleichzeitig eröffnen sich auch für die Gegenseite neue Blickwinkel.

 

Du hast das Thema „Dankbarkeit“ angesprochen. Was, glaubst du, haben wir als Gesellschaft der damaligen Generation der Gastarbeitenden zu verdanken – und was wurde ihr verwehrt?

 

Wir verdanken ihr unseren heutigen Wohlstand: monetär, kulturell, sozial und relational. Menschen mit Gastarbeitendengeschichte haben für die Prosperität des Landes mit Sorge getragen. Die pluralistische Gesellschaftsstruktur, in der wir heute leben, basiert auf diesem prägenden Grundstein – sie ermöglicht unser heutiges sehr diverses Zusammenleben.

 

Auch wenn mir Kolleg:innen widersprechen mögen, sollten Arbeit und die damit verbundenen Ungleichbehandlungen hervorgehoben werden. Und vielen Menschen mit Gastarbeitendengeschichte wurde Anerkennung verwehrt – trotz der Aufgabe ihrer Heimat und dem Aufbau eines neuen Zuhauses. Das Projekt möchte ihre Geschichten endlich würdigen und diesen Schmerz sichtbar machen. Das ist schmerzhaft und das soll sich ändern mithilfe des Projekts, indem endlich ihre Geschichten Würdigung finden.

 

Erinnerungsarbeit ist auch Zukunftsarbeit. Was ist dein Wunschbild für ein solidarisches und diverses Morgen?

 

Ich wünsche mir ein Morgen, in dem wir Unterschiede nicht als Spaltung, sondern als Reichtum begreifen. Diversität bedeutet nicht nur, Unterschiede sichtbar zu machen, sondern auch Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Mein Wunsch ist, dass wir so zusammenwachsen, dass Herkunft und Sozialisationshintergrund weniger trennend wirken und ein echtes „Wir“ entsteht, in dem viele Elemente ineinanderfließen und ein gemeinsames Ganzes bilden.